Juli 2024 Der Dünndarm – Organbeschreibungen der etwas anderen Art

In diesem Jahr möchte ich sie mit den schillernden Persönlichkeiten in unserem Leben vertraut machen. Die herrlichen Beschreibungen stammen von Peter Levin (Soziologe, Religionswissenschaftler und Osteopath) aus seinem Buch „Deine Organe Dein Leben“

Der Dünndarm

Weltoffen, sensibel und entscheidungsfreudig

Der Dünndarm ist mit seinen bis zu fünf Metern Länge ein langer, gewundener Schlauch. Er legt sich in vielen Schlingen und Schleifen im unteren Teil des Bauches aus. Wer im begegnet wird sich an ihn erinnern: er ist gesprächig, kontaktfreudig und unterhaltsam. Aus sich herauszugehen ist ihm eine Lust, keine Bürde. Aufgrund seines Organcharakters scheut er die Bühne nicht und drängt sich förmlich in die erste Reihe. Der Dünndarm ist unser wichtigstes Aufnahmeorgan. Er nimmt 99% der Stoffe auf, die wir aus der Umwelt brauchen. Nur die Lungen nehmen auf, was nicht im Spektrum des Dünndarms liegt: Sauerstoff. Lungen und Dünndarm sind jene Organe, die uns ermöglichen, Stoffe aus der natürlichen Umwelt in unser Inneres zu bringen. 

Im gesunden Dünndarm sorgt ein ausgedehntes Abwehrsystem dafür, dass die guten Stoffe hineinkommen und die schlechten draussen bleiben. Der Dünndarm trifft hier die Entscheidung im Grenzverkehr zwischen Umwelt und Innenwelt. Er ist ein guter Ja-Sager und nimmt Nahrungsstoffe auf; und ein ebenso talentierter Nein- Sager, wenn es darum geht, unliebsame Gäste draussen zu halten. Wer dem Dünndarm Gutes tun will, gibt ihm gesundes Essen und belastet ihn nicht mit Nahrungsmittelgiften. 

Der kranke Dünndarm reagiert zunächst mit Durchfall. Ist der Dünndarm gereizt oder entzündet, kann selbst gesundes Essen diesen irritieren und Durchfall auslösen. Ein chronisch gereizter Dünndarm – ob als Reizdarm oder Morbus Chrom – verliert seine fröhliche, in die Welt schlendernde Art. Anstatt ins Leben zu stürmen, wägt er vorsichtig jeden Schritt ab. Beim Verlassen des Hauses nimmt er den Plan der öffentlich zugänglichen Toiletten mit, um für alle Dringlichkeit gerüstet zu sein.

Köstlichkeiten und Unverträgliches

Der Dünndarm reagiert auf die biochemische Qualität der Nahrung. Wer ihn liebt, muss sich mit seinen kulinarischen Vorlieben und Abneigungen vertraut machen. Auch wenn ihn keine Unverträglichkeiten oder Allergien plagen, seine Sensibilität ist so ausserordentlich, dass wir ihn durch schleckte Kost aus der Fassung bringen können. Durch gutes Essen machen wir ihm Komplimente. Bei fraglicher und verdorbener Kost schützt er sich durch reinigendes Durchfallgewitter. Da der Darm in seiner Tätigkeit von Millionen in ihm wohnender Bakterien unterstützt wird, irritieren ihn die Vielzahl der antibiotischen Medikamente. Die Antibiose nimmt ihm die guten Mitbewohner weg, so dass seine Schleimhaut danach weniger gut arbeiten kann und verletzbar wird. Zu viel Zucker nährt einseitig die Pilz-Bewohner des Darmes und führt zu lokalen Pilzinfektionen. Wie jedes Organ hat der Dünndarm seinen eigenen Rhythmus. Seine Freunde kennen diesen und belasten ihn nicht zur abendlichen Stunde mit schwer verdaulicher Kost. Auch der Darm braucht Ruhe und mag sich in der Nacht nicht an eiweißreicher Kost abarbeiten. Ebenso stören ihn große Mengen an Süssigkeiten und Milch.

Hügellandschaft oder Six-Pack

Die Schlingen des Dünndarms liegen direkt unter den Bauchmuskeln. Der größte Teil der Schlingen liegt rechts und links unterhalb des Bauchnabels. Somit ist die Form des Bauches nicht nur bestimmt davon, wie gut die Bachmuskeln in Form sind. Auch die Größe und Stabilität formt den Bauch. Aus Sicht des Dünndarms ist der ideale Bauch weder Senkgrube noch Waschbrett. Die Schlingen brauchen Platz und gestalten die Landschaft wie ein germanisches Hügelgrab: ein zarter weichgeschwungener Hügel mit dem Bachnabel im Gipfel. Die dynamische Ausdruckskraft des Dünndarms drückt nach aussen und vorne. Er mag nicht vom Schönheitsideal des muskulären „six-packs“ begrenzt werden.

Ausufernde Bauchlandschaften

Wird dem Dünndarm übel mitgespielt, bricht er irgendwann zusammen. Besonders ein Übermaß an Nahrungs- und Genussgiften wie Alkohol und Zucker führen schon nach kurzer Zeit dazu, dass der Dünndarm kollabiert. Er verliert seine innere Kraft und Stabilität. Die wohlgeformte Hügellandschaft bekommt Einbrüche und Vorwölbungen. Anfangs kann der große Bruder Dickdarm den Rahmen noch halten und schlimmere Deformierungen verhindern. Aber anhaltendes, dünndarmschädigendes Verhalten überfordert selbst den stärksten Dickdarm. Die männlichen Mitbürger sind bei ausufernden Bauchlandschaften doppelt benachteiligt. Da sich Fett im männlichen Körper gerne im Bereich des Bauches ansammelt, kommt zur ermüdeten Deformierung noch die Verfettung hinzu. 

Dünn- und Dickdarm gehen zusammen den Weg der Verformung. Ein hängender und in die Breite gehender Bauch ist ein Zeichen der Dünndarmermüdung. Der erschöpft-hängende Dünndarm ist ebenso eingeschränkt in seiner Unternehmenslust wie der gereizt-angespannte.

Einzigartige Wand- und Deckenfresken

Wer die Chance hat das Dünndarmrohr bei einer Endoskopie von innen zu betrachten, wird sich der Faszination der Wand-und Deckenfresken kaum entziehen können. Diese sind bis ins Detail und in erstaunliche Tiefen ausgestaltet. Die Schleimhaut würde ausgebreitet einen Tennisplatz auslegen, eine beeindruckende Aufnahmefläche. Die Schleimhaut ist vielfach eingefaltet und mit Bakterien, Viren und Pilzen besiedelt. Die Peristaltik bewegt die aufgenommene Nahrung, die Räumlichkeiten des Dünndarms und ihre Mitbewohner gleichermaßen.

Veränderungsprozesse durch Migration

Alle Stoffe, die wir in unser Inneres aufnehmen gehen entweder durch die Alveolen der Lunge oder durch die Schleimhaut des Dünndarms. Die Absorption von Sauerstoff in den Lungen erfolgt ohne nennenswerte Umwandlungsprozess. Dagegen ist der Aneignungsprozess der Nahrung im Dünndarm arbeitsintensiv. Fast nichts passiert die Dünndarmschleimhaut so, wie es im Dünndarm ankam. Seine Aufgabe besteht darin, Fremdes mit ins „Eingemachte“ zu bringen. Bei der Migration der Nahrung aus dem Inneren des Darmes in das Innere dies Blutes werden die Stoffe aufgespalten, veränderten oft auch an Transportvehikel gebunden. Der Dünndarm ist also ein Umwandlungs-Aufnahmeorgan. Im Darmhohlraum und in der Schleimhaut werden die aufzunehmenden Nahrungsstoffe verändert. Daher reagiert der Dünndarm auch empfindlich auf die Inhaltsstoffe der Nahrung. Zu viel Zucker führt zu Gärungsprozessen und Blähungen, wie sie normalerweise im Dickdarm vorkommen.Die mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße werden einem Aufspaltungs- und Umwandlungsprozess unterzogen. In diesem Umwandlungsprozess wird fremde Chemie in körpereigene überführt. Dies ist nicht nur Aufgabe des Dünndarms, sie beginnt in sachten Schritten in Mund und Magen und kommt dann im Dünndarm auf Hochtouren. In der Leber und in den Körperzellen wird dieser Prozess vollendet.

Sinnesorgan

Das darmeigene Nervensinnessystem ist ein weit verzweigtes Nervensystem, das auf mechanische, elektrische und chemische Reize reagiert. Das darmeigene Nervensystem ist zudem mit dem immunologischen System vernetzt. Da allein der Dünndarm nahezu so viele Nervenzellen aufweist wie das Gehirn, spricht die populär-wissenschaftliche Literatur von einem „Bauchgehirn“. Menge und Masse ist zwar nicht alles, wenn es um Gehirne geht, aber die Dichte und Vernetzung des Enterichen Nervensystems sollte gewürdigt werden; sie spricht für komplexe Steuerungsmöglichkeiten.

Begegnungen zwischen Außen und Innen fallen in die Kategorie „Sinnesorgan“. Zwar haben wir es hier nicht mit einem klassischen Sinnesorgan wie Auge oder Ohr zu tun, aber die Wahrnehmungsbereitschaft und Sensibilität der Schleimhaut ist erstaunlich. Die Darmphysiologen bezeichnen die Dünndarmschleimhaut als „Sensor Organ“, als sensorisches Sinnesorgan.

Im Rahmen gehalten: der Dünndarm in der Organfamilie

Zum Glück wird der unternehmungslustige Dünndarm vom Dickdarm im Rahmen gehalten. Auf diesem Rahmen aufgespannt ist zudem das Zelt des grossen Netzes, des Momentum Majus. Das Zelt wärmt und beschützt den Dünndarm von vorne. Die Stabilität des Dünndarms ergibt sich aus der inneren Aktivität der Schleimhaut und der Muskeln. Sie wird unterstützt von aussen durch den Arterienfächer und den Dickdarmrahmen mit Zelt. Den Nieren und der Lendenwirbesäule hält der Dünndarm ein wärmendes und stabilisierendes Kissen vor, wenn diese müde und kalt werden.