November 2024 Die Harnblase – Organbeschreibungen der etwas anderen Art

In diesem Jahr möchte ich sie mit den schillernden Persönlichkeiten in unserem Leben vertraut machen. Die herrlichen Beschreibungen stammen von Peter Levin (Soziologe, Religionswissenschaftler und Osteopath) aus seinem Buch „Deine Organe Dein Leben“

Die Harnblase

Aufgehende Sonne aus dem Becken

Im Alltag begegnen wir der Blase meist, wenn sie durch widrige Umstände irritiert wurde und mit einer Entzündung reagiert. Wer sie durch kalte Sitzflächen oder nasse Füße verkühlt, der macht ihr Stress und muss deshalb viel trinken, um sie zu besänftigen. Manche schwören auf Cranberry-Saft, andere fürchten die aufsteigende Infektion zur Niere und kommen um den antibiotischen Cocktail nicht herum. Sonst spielt die Blase eher eine Rolle am Anfang und am Ende des Lebens. Während die Neugeborenen die Blase erst noch richtig trocken bekommen müssen, klagt manch mehrfach Gebärende, über Blasenschwäche bei Anstrengung und Aufregung, genannt Stress-Inkontinenz. Männer unterhalten sich in späteren Lebensabschnitten über das Phänomen des Nachtröpfelns, ein Problem im Zusammenspiel von Blase und Prostata. Insgesamt lässt die Blasenkraft des Wasserhaltens im Alter nach. Das Wasser, das gehalten werden soll, ist der aus der Niere kommende Herren, der namensgebend für die Harnblase ist. Ihre Blasenform hat schon früh Menschen dazu veranlasst, die Harnblasen von erbeuteten Tieren als Behälter zu verwenden. Offenbar war leicht zu erkennen, dass sie sich als Halteorgan für Wasser eignen.

Befreundete Wohngemeinschaft im Erdgeschoss

Die Harnblase wohnt im Erdgeschoss der Organhausgemeinschaft. Wir verlassen damit den ersten Stock des Magen-Darm-Traktes und begeben uns ins Becken. Bauch und Beckenorgane sind befreundete Wohngemeinschaften in der Organhausgemeinschaft. Sie haben gemeinsame Vorfahren, aber Darm und Blase gehen jeweils eigene Wege. Diese bilden zwei getrennte Ausgänge für die Ausscheidung von Harn und Kot. Am Ende bildet die Blase eine gesonderte Wohneinheit, eine Einliegerwohnung ohne Verbindungstür. Die Abtrennung der Erdgeschoßwohnung, in der Blase und Gebärmutter wohnen, erfolgt in der embryonalen Entwicklung.

Los der Schwerkraft

Bei einem Neugeborenen liegt die Blase noch oberhalb des recht schmalen Beckens. Erst mit der Entwicklung zum Stehen und der Vergrößerung des Beckenraumes findet sie Platz im Becken. Das wachsende und der Schwerkraft ausgesetzte Becken vergrößert sich und umfasst dabei die Blase. Sie findet im Laufe der ersten Lebensjahre hinter dem Schambein ihren angestammten Platz. Erst wenn die Blase hinter dem Schambein ihren Platz gefunden hat, kommt das Thema Scham im Zusammenhang mit der Blasenentleerung auf. Mit der Aufrichtung zum Sitzen und stehen wirkt das Gewicht der Organe der oberen Stockwerke auf die Blase ein. Das Einwirken der Schwerkraft unterstützt die Blase auf ihrem Weg ins Becken. Auch an der Veränderung der Blasenposition zeigt sich, dass wir uns aus der Bauch- und Rückenlage in den aufrechten Gang entwickeln.

Halten und loslassen, ein Leben lang

Die Blase kann, was viele zwanghafte Zeitgenossen nicht können und sich durch teure Workshops anzueignen, versuchen: halten und loslassen, sammeln und hergeben, anspannen und entspannen. Sie lässt sich füllen und übernimmt dann die Initiative, sich wieder zu entleeren. Sie neigt weder zum ansammeln und festhalten, noch zur Beliebtheit des Durchflusses ist. Sie lässt sich tragen vom Rhythmus des Lebens. Das Füllen und Leeren der Blase ist ein früher vegetativer Rhythmus, dem wir ausgesetzt sind. Das Halten des Harns wird durch einen Verschlussmechanismus am Blasenausgang möglich. Wir spüren die Blasenaktivität, die zur Kontinent führt, genauso wenig, wie wir die Eiweißaufnahme im Dünndarm spüren. Harnverhalt oder Kontinenz ist eine unbewusste Funktion, wie so viele der vegetative Funktionen.

Rasanter Sonnenuntergang

Loslassen kann die Blase, indem sie die Muskeln in ihrer Wand zusammenzieht. Die langsam aufgegangene Sonne versinkt in Sekundenschnelle hinter dem Horizont des Schambein. Die Blasenmuskulatur sorgt mit einer kräftigen Kontraktion dafür, dass auf einen Schlag die Blase vollständig entleert wird. Damit ist ihr Loslassen, nicht nur ein passives, Nachgeben und Waltenlassen der Kräfte; die Blase entleert sich durch eine gezielte Aktivität der Blasenwand bei gleichzeitiger Hemmung der Verschlussmechanismen. Die Blase verhält sich somit gerade umgekehrt als andere volumenfähige Organe. Sie fühlt sich langsam und entleert sich auf einen Schlag. Der Magen dagegen füllt sich während einer Mahlzeit in relativ kurzer Zeit und gib diese Fülle langsam und in nur kleinen Häppchen an den Zwölffingerdarm ab der Verschlussmechanismus am Magenausgang sorgt dafür, dass nur kleine Mengen durch kommen. Der Magen selbst kontrahiert sich für vermissender Bewegungen, die Blase, um sich zu entleeren.

Notdurft

Der Zyklus der Blase lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: er beginnt mit Toleranz für Füllung, führt zum Bedürfnis der Entleerung und endet durch Hinauszögern bei der Notdurft. Dieser Zyklus beginnt in der Nieren. Urin wird aus der Nierenkelchen beständig abgemolken, 1 bis 2 ml/min beim Erwachsenen. Der Urin gelangt über die Harnleiter in die Blase. Diese ist ausgesprochen tolerant für Füllung. Der Druck in der Blase bleibt über lange Phasen der Füllung gleich. Für die Blase gilt: ohne Druck keine Not. Mit zunehmenden Blasendruck entsteht das Entleerungsbedürfnis: ich muss mal. Wird das empfundene Bedürfnis durch Verzögerungstaktik oder widrige Umstände zur Not, sprechen wir von Notdurft. Die Blase ist ein Organ, dass uns daran erinnert, dass wir bedürftige Menschen sind und dass wir in Not die anderen Menschen brauchen. In der Not brauchen wir ein mit verstehen des und die Not mit empfinden des gegenüber. Dann können wir eine Lösung finden, die das Schamgefühl alle respektiert.

Helfer in der Not

Die pralle Blase braucht Verschlusshelfer. Wenn die Not am größten ist, kommt Verstärkung aus dem Beckenboden. Die Muskeln des Beckenbodens sind gute Helfer in der Not. Und wie wir es an Kindern beobachten können, die keine Zeit haben, die Toilette aufzusuchen, werden selbst noch die Beine um Unterstützung gebeten. Zusammen pressen und Innenrotation der Beine unterstützt den Nothelfer Beckenboden bei der Arbeit. Zu guter Letzt hilft noch, von einem Bein aufs andere zu tippen, um den Nothelfern alles ab zu verlangen, was sie zu bieten haben. Bei geringer Blasendehnung spüren wir die Beckenbodenanspannung kaum. Ohne gezielte Aufmerksamkeitslenkungsstrategien wird diese Aktivität nicht bewusst; erst bei zunehmender Füllung spüren wir den Druck auf den Beckenboden und können gegenhalten. Die Muskeln des Beckenbodens helfen so, bewusst oder unbewusst, beim Halten des Urins und beim Modellieren des Bedürfnisses nach Entleerung mit. Wird der Beckenboden schwach, verliert die Blase ihre Position und senkt sich ab. Instabile Blasen mag niemand, denn sie neigen dazu, Kontinenz in Frage zu stellen. Die Blase ist ein Organ, dass gut arbeitet, wenn sie stabil dort liegt, wo sie hingehört. Senkungen passen nicht zu ihrem Auftrag.

Trocken von Geburt bis zum Tod

Ein Neugeborenes hält den Harn mittels der unwillkürlichen Mechanismen der Blase und des Beckenbodens; es ist trocken. Was ist noch nicht kann: die Entleerung willentlich hinauszögern. Das Baby pinkelt ein und ist nass in der Windel, aber zu keinem Zeitpunkt läuft der Harn einfach nur durch die Blase hindurch. Dann wäre das Baby ständig nass. Wenn wir davon sprechen, dass ein Kind „trocken“ wird, müssen wir zugleich zugeben, das ist die meiste Zeit „trocken“ war. Im Laufe des zweiten und dritten Lebensjahres entwickelt, ist die Fähigkeit, den vegetativen Rhythmus der Blasenentleerung zu modellieren und „trocken“ beziehungsweise „kontinent“ zu sein. Die meisten Kinder sind mit drei Jahren tagsüber trocken und dann auch bald nachts ohne Windel. Dann genießen die Meisten eine lange Zeit ohne Sorgen und Peinlichkeiten, kleine Ausrutscher ausgenommen. Der doppelte Verschluss hält meist, selbst in warmen Wasser oder unter Einfluss von Alkohol (im Fluss und im Suff).  Am Ende eines langen Lebens wird die Errungenschaft etwas schwächer. Im Alter lässt die Kraft des externen und internen Sphinkters nach und Kontinenz wird wieder fragil. Dann helfen wir durch Beckenbodentraining nach und tragen, für alle Fälle und gegen die Peinlichkeit, Einlagen.

Frauen und Männer sind unterschiedlich

Selbst das richtige Verhalten beim pinkeln am gemeinsam vereinbarten Ort hat in manchen Hausgemeinschaften zu größeren Abstimmungsprozessen geführt. Seine Harnblase zu entleeren, ist soziale Aktivität, und deshalb wundert es nicht, wenn sich darin soziale und geschlechtliche Unterschiede manifestieren. Die Harnblase trägt die klare Aussage in sich: Frauen und Männer sind unterschiedlich. Die Harnblase einer Frau und eines Mannes sind weitgehend gleich gebaut und reguliert. Sie unterscheiden sich aber deutlich in der Beziehung zu den Nachbarorganen und diese Unterschiede prägen auch das Verhalten der männlichen und weiblichen Harnblase im Laufe eines Lebens. Somit sind weibliche und männliche Sensibilitäten im Becken, nicht über einen Kamm zu scheren. Die Harnblase des Mannes sitzt auf der Prostata. Der Dünndarm des Mannes liegt direkt auf der Harnblase, so dass ein Reizdarm zu einer Reizblase führen kann. Die Harnblase der Frau trägt die Gebärmutter. Der Dünndarm der Frauen ruht auf der Gebärmutter und, je nach deren Neigungswinkel, auch auf dem vorderen Teil der Blase.

Sensibilitäten und Geschlechter

Spannungs- und Volumen Veränderungen der Blase übertragen sich bei der Frau vermehrt auf die Gebärmutter, bei Mann auf den Dünndarm. Umgekehrt wirken sich die Zustände des Dünndarms beim Mann vermehrt auf die Blase aus, bei der Frau auf die Gebärmutter. Wir können spekulieren, ob die manchmal hysterisch überzogene oder ganz und gar fehlende Sensibilität des Mannes daherkommt, dass Darm und Harntätigkeit so eng auf einander wirken. Die Harnblase der Frau sitzt direkt auf dem Beckenboden. Die Harnblase des Mannes ruht auf einer Drüse. Durch die Prostata zieht die Harnröhre. Entsprechend unterschiedlich sind die Entstehungsgeschichten von Blasenproblemen bei den Geschlechtern: Restharn und Inkontinenz. Restharn bedeutet, dass der Entleerungsmechanismus ungenügend funktioniert und geringe Harnmengen in der Blase verbleiben, die das Risiko von Blasenentzündungen erhöhen. Entleerungsstörungen der Blase wie Restharn oder Nachtröpfeln werden beim Mann oft durch Schwellungen der Prostata verursacht. Der Abfluss des Harns durch die Prostata ist durch deren Schwellungen leicht verlegt. Das dadurch entstehende Abflusshindernis führt dazu, dass Harn in der Blase bleibt oder nur in kleinen Mengen abgehen kann. Besonders Frauen kennen eine weitere Ursache für die unvollständige Blasenentleerung Eile und Hast beim pinkeln. Offenbar braucht die Blase ihre Zeit und ihre Umstände, um sich gut zu entlasten. Wer keine Zeit zum Wasserlassen mit sich bringt oder die örtlichen Umstände als wenig einladend empfindet, neigt zur Restharnbildung. Auch die Inkontinenz scheint geschlechtsspezifische Entstehungsgeschichten zu kennen: die der Männer ist oft eine Folge von Operationen an der Prostata; die der Frauen wird durch Beckenbodenschwäche verursacht, insbesondere nach Schwangerschaft und Verletzungen bei der Geburt. Blase, Gebärmutter und Beckenboden sind in der Schwangerschaft und während der Geburt mechanisch schwer belastet.

Honig süß und Ameisen anziehend

Wer Behandlungen mit Eigenurin scheut, kann – neben dem Ekel – gute Gründe anführen, die gegen den Konsum einer für den Abfall bestimmten Flüssigkeit sprechen. Die früheren Helden der Medizingeschichte konnten sich diesen Luxus nicht leisten, war doch die Geruchs und Geschmacksdiagnostik des Harns, eine der Methoden, eine Zuckererkrankung nachzuweisen. Der Harn der Zuckerkranken riecht und schmeckt süßlich, wie Süßmolke oder Milch. Namens gebend wurde dieser Geschmack und Geruch für die ganze Erkrankung: Diabetes mellitus heißt soviel wie Honig, süßer Durchfluss. Zarter besaitet Diagnostiker beließen, ist dabei, die anziehende Wirkung des süßlichen Urins auf Ameisen zu beobachten.

Stoff und Säure

Der Harn enthält die Endprodukte der wichtigsten Stoffwechselvorgänge, insbesondere Kreatinin, Harnstoff und Harnsäure. Beim zyklischen, Abwehr- und anstrengungsbedingten Zerfall von Muskelzellen entsteht Kreatinin durch die Verbrennung von Kohlenhydraten und die Verarbeitung von Eiweißen und Fetten entstehen. Harnstoff und Kohlendioxid. Nur Kohlendioxid wird über die Lunge ausgeatmet, der Rest der Endprodukte der Stoffwechselvorgänge wird ausgepinkelt. Am Ende der Eiweißverarbeitung bleibt giftiges Ammoniak übrig und wird in Harnstoff verwandelt. Zu viel Harnstoff tut der menschlichen Organismus auch nicht gut und wird von den Nieren aussortiert. Ähnliches gilt für das Endprodukt des Abbaus von Zellen. Die Zellkerne werden beim normalen Absterben von Zellen in den Stoffwechsel einbezogen; es entsteht Harnsäure. Auch wenn wir Nahrung verstoffwechseln, die reich an Zellkernen ist (wie zum Beispiel Fleisch), kann es zu einer den Körper belastenden Überproduktion von Harnsäure und gichtartigen Schmerzen kommen. In der Gicht kristallisiert Harnsäure, und diese Kristalle folgen der Schwerkraft nach unten und lösen im großen Zeh starke Schmerzen aus.