September 2024 Der Magen – Organbeschreibungen der etwas anderen Art

In diesem Jahr möchte ich sie mit den schillernden Persönlichkeiten in unserem Leben vertraut machen. Die herrlichen Beschreibungen stammen von Peter Levin (Soziologe, Religionswissenschaftler und Osteopath) aus seinem Buch „Deine Organe Dein Leben“

Der Magen

Toleranz und sozialer Ausgleich

Noch bevor die Menschen viel über den Magen wussten, wurde diesem eine besondere Rolle im Zusammenleben der Organe beigemessen. Immer wieder stand der Magen für den gesamten Bauch. Noch heute sagen die Engländer (stomach) Magen und zeigen auf den ganzen Bauch. Symbolisch wurde der Magen auch für die ganze Ernährung herangezogen, wenn es darum ging, Konflikte der Menschengemeinschaft als Konflikte zwischen Organen darzustellen. Der Magen bietet sich scheinbar an, über Ähnlichkeiten, im Zusammenleben der Organe und Menschengemeinschaft nachzudenken. Es lohnt sich daher, ihn zuerst als Akteur in den menschlichen Dramen kennen zu lernen und erst dann herauszufinden, was wir heute über seine Fähigkeiten und Talente wissen. Offenbar wussten die Menschen schon früh, dass ein kranker Magen den ganzen Menschen krank machen kann. Einem Menschen mit Magenschleimhautentzündung steht das Leiden förmlich ins Gesicht geschrieben.

Gastro-Nomie

In der römischen Geschichte steht der Magen für den ganzen Bauch und die menschliche Ernährung. Das lateinische Wort für Magen (Master) hat unsere Gastronomie das Gesetz (nomos), der guten Magenewirtung, hervorgebracht. Wenn wir an Essen denken, kommt der Magen mit ins Spiel. Das ist gut so, denn der Magen erlebt die passende Mahlzeit und erleidet die Völlerei und die Hungerexzesse. Der Magen reagiert also auf die Menge, die wir essen und auf unser Essverhalten, während der Dünndarm auf die Qualität der Nahrung sensibel antwortet. Ein Magen mag die Fülle zur rechten Zeit – eine gute Mahlzeit zum Mittag, um nachts zu ruhen; dann kann der neue Tag in aller Frische und Bereitschaft zur Fülle und mit einem kaiserlich-köstlichen Frühstück beginnen.

Mundgefühl

Gastronomische Genüsse fangen im Mund und auf der Zunge an. Die Nahrung wird schon im Mund bearbeitet; sie wird im Kauen, zerkleinert und mit Verdauungsenzymen durchsetzt. Dadurch ändern sich Konsistenz und Geschmack der aufgenommenen Nahrung. Es entsteht das „Mund-Gefühl“, dass die weitere Wahrnehmung des Essens im Darm beeinflusst. Die Bearbeitung der Nahrung im Mund informiert den Magen über das, was kommen wird. Beim Kaugummi-Kauen, erwartet der Magen die ankommende Mahlzeit vergebens. Er aktiviert sich und wird dann mit seiner erwartungsvollen Bereitstellung von Salzsäure und Peristaltik im Nassen stehen lassen. Dem Magen tut das nicht gut. Dem Kopf auch nicht, denn manche bekommen vermehrt Kopfschmerzen dadurch. Geschmack und Geruch sind die sensorischen Qualitäten, die im Mund- und Nasenraum beginnen und mit der dortigen Schleimhaut und den dazugehörigen Hirnnerven zu tun haben. Auch Ekel und Übelkeit können hier schon beginnen. Da diese unangenehmen Gefühle erst im Zusammenspiel von Magen und Zwölffingerdarm verständlich sind, werden wir im nächsten Kapitel genauer auf sie eingehen. Die Mundschleimhaut ist nicht für die sensorischen Wahrnehmungsqualitäten bekannt; sie verfügt über eine noch schnellere Erneuerungsrate als der Dünndarm und kann diese auch bis ins hohe Alter erhalten. Im Mund können wir jung und frisch bleiben, da wir dort in einem Ausmaß Stammzellen bilden, dass Stammzellforscher ins Träumen kommen lässt.

Anfahrt zum Magen

Stellen wir uns den Magen-Darm-Trakt als ein Haus mit Grundstück vor, am besten eines jener schon als „Anwesen“ zu bezeichnenden Farmhäuser im Süden der USA, die in amerikanischen Fernsehserien gerne auftauchen. Dann wären Mund und Speiseröhre, Eingang und Zufahrt zum Haus. Die Tore würden aufgehen mit der Öffnung des Mundes, und die lang gezogene Anfahrt entspricht der Länge der Speiseröhre. Die Reise entlang der Speiseröhre endet in einem großen und offenen Raum, dem Magen. Dieser erste große Raum ist die Veranda, auf der sich das soziale Leben der Familie und Nachbarschaft abspielt.

Veranda des Magen-Darmtrakt

Der Magen ist die Veranda des Magen-Darm-Trakt. Im amerikanischen wird diese Veranda „porch“ genannt. Auf der porch zu sitzen, ist ein Privileg und Ausdruck eines ansehnlichen sozialen Status. Die porch sitter saßen auf dem Schaukelstuhl oder in der hölzernen – damals noch nicht so genannten – Hollywood-Schaukel, der porch swing. Auf der Veranda treffen sich Freunde und Nachbarn, kommen und gehen, verwickeln und verlieren sich in Gesprächen. Es ist ein Ort des sozialen Zusammenseins, ohne dass das Haus (der Zwölffinger- und Dünndarm) selbst betreten werden muss. Nicht alle, die auf die Veranda gelangen, werden auch ins Haus eingeladen. Hier wird gelouncht, auf Hängematten gehangen, small talk wie, ernsthafte Gespräche geführt. Hier mischen sich die unterschiedlichsten Charaktere; der Platz und die Toleranz sind groß genug, um ein freundliches und zu weilen freundschaftliches Zusammensein zu gewähren. Der Magenveranda ist nicht so schnell etwas zu viel, Sie gibt Raum für kleinere Zusammenkünfte und größere Feste.

Architektur und Klang der großen Halle

Die Magen-Veranda baut das typische Darmrohr zu einer großen Halle aus. Die Wand der Halle besteht wie überall im Darmrohr aus Muskeln und Schleimhaut. Zu den üblichen längs und zirkulär verlaufenden Muskelfasern kommt eine schräg verlaufende dritte Muskelschicht hinzu. Magenspezifisch ist eine breite Schicht aus Drüsen, die Salzsäure produziert und sekretiert. Die Halle des oberen Magens ist stabil und Luft gefüllt. In der Klanguntersuchung (Perkussion) klingt sie wie eine Kathedrale. Der untere Teil des Magens ändert mit der Füllung seine Form und manchmal Position; er ist beweglich und klingt mit Füllung nicht hohl, sondern matt. Auffallend ist die Gefäßarchitektur, die in der Magenwand und um den Magen herum ein verzweigtes Netz aus kommunizierenden Gefäßen bildet. Die innere Gefäßverflechtung macht den Magen relativ unempfindlich gegen arterielle Unterversorgung. Wird ein Gefäß verlegt, gewährleistet die Gefäßvernetzung dennoch die Versorgung Des Gewebes. Die Gefäße der Magenumgebung bilden eine Hängematte, in die sich das Organ legen kann. Sie spannen das Organ von außen auf. Somit wären sie mit dem Gestänge eines Zeltes zu vergleichen, dass dieses von außen in Form und Position hält.

Stress-Toleranz

Selbst ohne Füllung durch Essen oder Trinken, kann der obere Teil des Magens sein Volumen durch eine Luftblase ausdehnen. Die besondere Fähigkeit des Magens ist also in seiner Toleranz für Volumenveränderungen gegeben. Er besitzt die im Magen-Darm-Trakt einzigartige Fähigkeit zur Entspannung bei Zunahme von Stress. Ohnmächtig nimmt er an, was ihm zugeführt wird. Er entscheidet nicht über die Menge, die gegessen wird., Sondern passt sich den Herausforderungen der Füllung an. Wird der Dünndarm durch Volumenzunahme vermehrt gedehnt, würde er sich vermehrt anspannen und den Druck erhöhen. Dagegen ist der Magen nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Die Volumen und Druckzunahme wird durch „Stressrelaxation“ beantwortet; der Magen dehnt sich relativ aus und erlaubt eine Zunahme des Volumens, ohne den Druck zu erhöhen. Ein Organ, dass bei vermehrten Druck durch Entspannung die Situation entschärft, kann eine große Hilfe sein.

Form- und Volumendynamik

Im Zusammenleben der Organe ist der Magen eine ständige Erinnerung an die Verschränkung von Form und Volumendynamik. Die Füllung des Magens führt zu einer Volumen- und Formveränderung. Da der Magen diese volumetrische Ausdehnung gut ausführen kann, wird ihm das auch zur Falle. Aus der Stärke entsteht das Problem: zu viel Dehnung, zu viel Volumen, führt zu einer Ausdehnung der Form,  die nur schwer rückgängig zu machen ist. Besonders gefährdet ist die große Kurvatur, die auch bei der Stressrelaxation die entscheidende Rolle spielt. Bei zu viel Volumen, übernimmt sich der Magen, überstrapaziert seine Toleranz und wird vom übersteigerten Anspruch der Füllung überdehnt. Das führt zu Verstimmung, Völlegefühl, Gärung wegen zu langer Lagerungszeit, Aufstoßen und Reflux mit sauren Geschmack und Geruch. Wie jede rezeptive Natur neigt der Magen dazu, sich zu übernehmen. Manchmal ist dann Sich-Übergeben. Die einzige Chance, sich zu entlasten. Ein ausgeleierter Magen legt sich in die Hängematte des Quer-Colons und hängt sich oben an das Zwerchfell. So können vermehrt Blähungen oder Atembeschwerden – besonders nach einer Mahlzeit – Anzeichen der Magenmüdigkeit sein. Über die Speiseröhre verbindet sich der Magen mit der oberen Brust- und Halswirbelsäule. Die Muskelfasern ziehen bis zur Schädelbasis und markieren so das obere Ende des kranio-sacralen Darmrohrs. Ein müder und hängender Magen belastet die Wirbelsäule und erschwert das Halten des Kopfes.

Am Magen erkrankt der Mensch

In der Schleimhaut des Magens wird der so genannte intrinsic Faktor gebildet, der für die Aufnahme von Vitamin B12 in Dünndarm gebraucht wird. Da Vitamin B12 für die Bildungsprozesse aller Zellen notwendig ist, leidet der gesamte Organismus unter den Mangel an intrinsic Faktor bei Magenerkrankungen. Die Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes und die Blutzellen werden ständig neu gebildet, aber auch Nerven und Bindegewebe erneuern sich regelmäßig und brauchen daher Vitamin B12. Magen und Dünndarm arbeiten zusammen, um diese Nachfrage zeitnah zu beantworten. Schaffen Sie es nicht, genug Vitamin B12 bereitzustellen, können Menschen in der ganzen Breite des Zellspektrums erkranken: Blutarmut, nervöse Störungen, Schleimhautabbau. Ein kranker Magen kann somit den ganzen Menschen krank machen.

Einladung zur manuellen Medizin

Der Magen ist bestimmt durch die rhythmischen Volumenänderungen der Nahrungsaufnahme. Die Volumenzunahme durch Essen bewirkt eine Dehnung der Magenwand, die wiederum die vermischende Magen-Torsion stimuliert. Der Magen funktioniert wie ein Mixer, er zerkleinert und vermischt. Die Dehnung der Magenwand bewirkt also eine Freisetzung des Hormons Gastrin, das wiederum die Säureproduktion anregt. So liefert der Magen den Organ-Mechanikern den besten Beweis, dass mechanische Reize hormonelle und chemische Änderungen hervorrufen: Dehnung bewirkt Kontraktion und Hormonausschüttung. Damit spricht der Magen eine Einladung an die manuelle Medizin aus: Mechanik zählt. Neben der Mechanik spielt die hormonelle Steuerung durch den Zwölffingerdarm eine wichtige Rolle für den Magen.